Uli Roth
Sie fühlten sich kerngesund, waren beruflich erfolgreich und standen in der Mitte ihres Lebens. Die Diagnose Prostatakrebs traf die Zwillingsbrüder Michael und Uli Roth wie ein Blitz an einem Sonnentag. Plötzlich wird das Leben beherrscht von den Themen Inkontinenz, Impotenz und Tod. Die ehemaligen Handballprofis nahmen den Kampf auf und gelten heute als geheilt.
An den 16. April 2009 kann sich Michael Roth noch genau erinnern. Es ist der 14. Geburtstag seiner Tochter, als er den Befund erhält. So ein Tag brennt sich ins Gedächtnis ein. „Es ist eine Nachricht, die du nicht für dich selbst behalten willst, andererseits willst du den Geburtstag nicht versauen.“ Hinter Michael liegt eine erfolgreiche Saison als Handballtrainer beim TV Großwallstadt. Den neuen Vertrag bei der HSG Wetzlar für die Bundesliga Mannschaft hat er in der Tasche. Michael ist 47 Jahre alt und voller Zuversicht. Als Trainer will er Vorbild sein und ist regelmäßig bei seinem Urologen in Schweinfurt. Seit ihrem 40. Lebensjahr machen die Brüder einen PSA-Test, denn beide sind familiär vorbelastet. Bei dem Vater wurde ein Prostatakarzinom entdeckt. Bei Michael ist der PSA-Wert an jenem Tag beim Urologen auf 4,1 angestiegen. Verdacht auf Prostatakrebs. „Das habe ich wie im Nebel wahrgenommen. Man wird plötzlich mit dem Thema Krebs konfrontiert.“
Michael telefoniert sofort mit seinem fünf Minuten älterem Bruder Uli. So wie die Zwillinge es täglich mehrmals machen. Michael, der ehemalige Spielmacher und Uli der Kreisläufer. Die Brüder verstehen sich ohne Worte – nicht nur auf dem Feld. Alle privaten und beruflichen Gedanken teilen sie miteinander. Uli hat sofort ein ungutes Gefühl und ahnt, dass auch er an Prostatakrebs erkrankt sein könnte. Es wird so sein wie früher in den Kindertagen. Michael hatte erst Masern und Windpocken, danach war Uli krank.
Sechs Wochen nach Michaels Diagnose bricht für Uli Roth eine heile Welt zusammen. „Ich bin jetzt ein Mann mit der Diagnose Krebs. Dadurch unterscheide ich mich von anderen Männern“, sagt der Musik- und Sport-Manager heute.
Die Zwillingsbrüder reagieren sehr unterschiedlich auf die positive Biopsie-Probe. Michael kündigt seinen Job und entscheidet sich für Entschleunigung. Tagelang sitzt er auf dem Sofa und grübelt. Uli stürzt sich noch mehr in die Arbeit, um sich von seinen Ängsten abzulenken. Wie ist es mit Inkontinenz und Impotenz nach der Operation? Geht da überhaupt noch was oder droht ein unerfülltes Liebesleben mit Windeln? Uli macht dies erst einmal schweigend mit sich und nur seinem Bruder ab, weil er die Familie nicht weiter belasten möchte. Die Mutter leidet seit kurzem an einem Nierenkarzinom, die Stimmung im Elternhaus ist ohnehin gedrückt. „Das waren die vier schlimmsten Wochen meines Lebens. Ich habe gelernt, dass dieses Zurücknehmen nicht gut ist. Wer erkrankt ist, muss sich öffnen und mit Familien und Freunden reden. Das ist eine seelische Befreiung“, erzählt Uli.
Den Zwillingsbrüdern wird nach vielen Gesprächen mit Ärzten klar, dass sie Glück haben. Weil der Tumor so früh entdeckt wurde, kann nervschonend operiert werden. Professor Hartwig Huland von der Martini-Klinik macht ihnen Hoffnung, dass Kontinenz und Potenz bei diesem Verfahren erhalten bleiben können. Michael hat seinen OP-Termin am 30. April 2009. „Mir war klar, dass ich den Krebs so schnell wie möglich aus dem Körper raus haben möchte“, sagt er. Erst nach der erfolgreichen Operation merkt er, dass er keinen Samenerguss mehr haben kann. „Das ging vorher total unter durch die emotionalen Stürme. Nur noch einen trockenen Orgasmus, auch wenn das Spaß macht. Heißen Föhn nenne ich das. Das ist schon verwunderlich und fühlt sich komisch an“. Seinen Humor hat Michael nicht verloren. Diese positive Lebenseinstellung hilft auch Uli, der ebenfalls nach der Entfernung der Prostata einige Nächte Windeln tragen muss. Seine Samenzellen hat er vorsorglich vor der OP einfrieren lassen. Mit dieser Selbstspende macht er sich das größte Geschenk, denn im anschließenden Erholungsurlaub lernt Uli seine Traumfrau kennen. Der Sohn wird durch künstliche Befruchtung gezeugt und kommt im Dezember 2014 auf die Welt.
An das Thema Fruchtbarkeit denkt der damalige Single Michael nicht. Ein Kinderwunsch ist nicht in seinem Kopf. „Aber ich weiß jetzt, dass ich fruchtbar sein kann, denn der Samen wird nach wie vor im Nebenhodensack produziert."
Mit Beckenbodengymnastik und gezielten Kraftübungen trainieren die Zwillingsbrüder ihren Schließmuskel. Im Alltag haben beide kein Inkontinenzproblem mehr. Nur wenn Michael als Handballtrainer vom MT Melsungen am Spielfeldrand steht und laut brüllt, kann schon mal ein Tropfen in die Hose gehen. Michael nimmt es gelassen: „Also gehe ich vor dem Training auf die Toilette. Aber daran habe ich mich gewöhnt.“
"Der Krebs hat Spuren in der Seele hinterlassen"
Das Leben von Michael und Uli hat sich durch den Prostatakrebs verändert. Er hat Spuren in der Seele hinterlassen. Beide leben bewusster und nicht mehr am Limit. Laufen gehört für sie zum täglichen Programm. „Ich habe früher auf jeder Hochzeit getanzt. Jetzt genieße ich die Zeit zuhause“, sagt Uli. Kleine Auszeiten durch Kurzurlaube sind den Zwillingsbrüdern wichtig geworden. In ihren festen Beziehungen tanken sie auf, genießen Ruhe und Harmonie mit ihren Partnerinnen. Uli hat gelernt, dass er sich auf sein Team verlassen kann. „Ich weiß, dass es auch ohne mich läuft. Ich lasse los, weil ich vertraue.“
Die Zwillinge haben am eigenen Leib erfahren, wie wichtig die Früherkennung bei Prostatakrebs ist. Deshalb gehen sie in die Öffentlichkeit, wollen das Tabu brechen. Uli: „Viele Männer wissen gar nicht, wie wichtig die Prostata ist. Sie machen nur blöde Witze. Deshalb lautet unser Appell an die Männer. Geht früh zur Untersuchung, denn der Tumor ist im frühen Stadium heilbar.“
Mehr von Uli und Michael Roth und zwei Buchtipps
www.roth-zwillinge.de
Bild.de: Trotz Prostatakrebs noch mal Vater
Buchtipp: 2020: HURRA, DASS WIR NOCH LEBEN
Buchtipp: 2009: UNSER LEBEN UNSERE KRANKHEIT
Ich könnte noch einmal Vater werden, wenn ich möchte.
Michael Roth